L'îlot

Kleine Insel / Like an Island

In der Hitze des Sommers überwachen Ammar und Daniel den Fluss, der durch einen kleinen Wald unterhalb eines Lausanner Arbeiterviertels fliesst. Ammar ist neu im Beruf, und Daniel teilt seine Erfahrungen mit ihm. Im Laufe der Runden und Begegnungen zeichnet sich ein Territorium ab, und eine Freundschaft entsteht. Aber was ist wohl am Fluss passiert?

In seiner von Rätselhaftigkeit, Nostalgie und Humor geprägten zeitgenössischen Fabel hinterfragt Tizian Büchi auf subtile Weise die Überwachungsgesellschaft und bewegt sich dabei gekonnt zwischen Dokumentation und Fiktion.

Der Film L’îlot, der bei Visions du Réel 2022 mit dem Großen Preis des Internationalen Wettbewerbs ausgezeichnet wurde, hat seitdem eine beachtliche Karriere auf internationalen Festivals hingelegt. Von Karlovy Vary bis zu DMZ Docs in Südkorea, von der Mostra in São Paulo bis zum Festival von Locarno. L’îlot ist für den Schweizer Filmpreis in der Kategorie Dokumentarfilm nominiert.

Technische Daten

L’ÎLOT, 104min, 2022
Original Fassung Französisch/Spanisch/Arabisch/Portugiesisch

Regie: Tizian Büchi
Kamera: Diana Vidrascu & Camille Sultan
Ton: Bruno Schweissgut
Schnitt: Thomas Marchand
Tonschnitt und Mischung: Adrien Kessler
Colorgrading: Raphael Dubach
Cast: Ammar Abdulkareem Khalaf, Daniel Nkubu, Elie Autin, Juliette Uzor

Produktion: Alva Film & Territoires sensibles
World sales: Filmotor

Anmerkungen des Regisseurs

Dieser Film gründet in drei Begegnungen, die ich nach meiner Rückkehr nach sechs in Brüssel verbrachten Jahren in Lausanne hatte. Drei Begegnungen, drei Gesichter: das zweier Männer, Ammar und Daniel, und das eines Wohnviertels, Les Faverges. Dieser Film entstand aus meinem Wunsch, die drei Gesichter mit einem Ansatz zu filmen, in dem dokumentarische Suche und fiktionale Intuitionen miteinander verwoben sind.

Die Stadtteile Faverges und Chandieu bilden das Territorium des Films. Das Viertel liegt am Rande der Hauptverkehrsachsen der Stadt und befindet sich geografisch gesehen in einem « Loch ». Im Gegensatz zu den wohlhabenden Häusern auf den umliegenden Hügeln mit ihrem freien Blick auf den See und die Berge gibt es in Les Faverges keine Aussicht, sondern eine dichte Bebauung mit Gebäuden, die in den 1950er-Jahren gebaut wurden und ursprünglich für die Eisenbahnarbeiter und ihre Familien bestimmt waren. Auch heute noch leben in dem Viertel vor allem Menschen mit geringem Einkommen, die häufig einen Migrationshintergrund haben, und Pensionierte. Ausser den hier wohnhaften Menschen kennen nur wenige Lausanner*innen die Gegend. Wenn man dem Rauschen des Flusses folgt, gelangt man unterhalb des Viertels in eine grüne Oase mitten in der Stadt, die gleichzeitig bukolisch und beunruhigend, auf jeden Fall aber geheimnisvoll ist.

Mit dem Entdecken dieser Gegend reifte die Idee für den Film: Ein mögliches, ein unbestimmtes und mysteriöses Ereignis, das sich entzieht – auch mir entzieht – und das es durch den Film zu fassen gilt. Ausgehend von den Erzählungen der Bewohner*innen, den Empfindungen und Eindrücken, die das Gebiet und die verschiedenen Schichten des dort Lebenden versprühen: von den Wurzeln und tiefen geologischen Schichten über die Pflanzen, Tiere, Elemente, Menschen, ihre Geschichten und Legenden aus Vergangenheit und Gegenwart bis hin zu den Geistern und Kräften, Ideen und Anschauungen. Im Laufe der Zeit und der Begegnungen werden die realistischen, imaginären und sinnlichen Handlungsstränge miteinander verwoben, um, wenn nicht eine Erklärung für das mysteriöse Ereignis zu finden, so doch zumindest ein Porträt des Viertels mit einem Hauch von magischem Realismus zu komponieren.

Der Film zeichnet zudem ein Porträt von Ammar und Daniel, das von dem des Viertels überlagert wird. Die beiden Sicherheitsleute haben die Aufgabe, den Fluss zu sichern und den Zugang zu ihm zu verhindern. Zu Beginn des Projekts war nur ein einziger Wachmann vorgesehen. Ein Mann mit einem imposanten Körperbau, der durch die Gegend laufen, sein Absperrbänder anbringen und im Schatten sitzen würde, um der schwülen Hitze zu entgehen. Es käme zu Begegnungen und Gesprächen mit den Bewohner*innen, deren Neugier durch des Wachmanns Anwesenheit geweckt würde. Diese Figur, eine Mischung aus Sicherheitsbeamter und Schutzengel, wurde vom realen Daniel inspiriert. Als ehemaliger Kontrolleur der öffentlichen Verkehrsmittel in Lausanne habe ich ihn vor über zehn Jahren zum ersten Mal in einem Bus getroffen. Ich hatte keinen gültigen Fahrausweis… Seine kräftige, lachende Stimme, sein jovialer Blick, sein Charisma und seine natürliche Autorität hatten mich damals stark beeindruckt! Nach mehreren Jahren traf ich Daniel schliesslich wieder und er war sofort bereit, im Film mitzuwirken. Als sich der Drehplan mehr und mehr konkretisierte, stieg Ammar mit ins Abenteuer ein. Wir wohnten zu diesem Zeitpunkt seit zwei Jahren zusammen in einer WG und er wollte, im Film mitspielen. Die Idee mit dem Wachmann-Duo war geboren.

Aus ihren Erzählungen, Erfahrungen und Lebenswegen wurden fiktive Charaktere geschaffen: ein älterer Wachmann, der schon länger im Beruf ist und sich die Werte und Gepflogenheiten seiner Wahlheimat zu eigen gemacht hat. Dieser führt einen jüngeren, verträumten Wachmann, dessen ganze Zukunft noch vor ihm liegt, bei seinen ersten Schritten in den Beruf ein. Dieser Vermittlungsauftrag ermöglicht eine Freundschaft jenseits aller Differenzen. Schon bei ihrer ersten Begegnung war ich von der Stärke des Duos begeistert. Einerseits überzeugten Daniel und Ammar mit ihrem komödiantischen Potenzial und andererseits gelang es ihnen spontan, sich im vorgegebenen fiktiven Rahmen zu behaupten. Ihre unterschiedlichen Charaktere und Persönlichkeiten – Daniel ist sehr sozial, während Ammar eher zurückhaltend und dem Fantasieren zugeneigt ist – ermöglichte es, das Faverges-Gebiet zum Sprechen zu bringen; es erst zu enthüllen und überhaupt existieren zu lassen: sowohl auf der realen Ebene durch Begegnungen und Gespräche als auch durch ihr Spiel mit der Fiktion und dadurch, dass sie sich vom Geheimnis des Flusses mittragen liessen.

Es gibt etwas völlig Absurdes an diesem Sicherheitsauftrag, der auf keinen konkreten Fakten beruht. Aber gibt es nicht heute, gerade auch in der Schweiz, Bestrebungen zu überwachen, was sich jeglicher Kontrolle entzieht? Der Film geht der Frage in mehreren Richtungen nach. Es geht zwar um Überwachung aber auch um Fürsorge, um Aufmerksamkeit. Mit all ihren Vorzügen, Mängeln und (auch unbeabsichtigten) Fehlern geht das Überwachen Hand in Hand mit der komplexen Problematik des « Gemeinschaftssinnes ». Sehen und gesehen werden, das gilt zwischen der Aufsicht und den Beaufsichtigten, aber auch zwischen den Bewohner*innen selber. Die Mission von Ammar und Daniel erhält dadurch einen besonders absurden Dreh, als dass sich ihre Lebenswege und Schicksale mit denen der Bewohner*innen decken: Jede/r sucht seinen/ihren Platz, sucht das Gebiet, in dem er/sie sich mit der grösstmöglichen Freiheit respektive Bindung und mit dem geringsten Druck von aussen (familiärer, moralischer oder politischer Art) verwirklichen kann.

In der Nachbarschaft ist « nichts los », wie Ammar seinem Vater während seines Dienstes am Telefon anvertraut. Die Wartezeit ist lang und die beiden Sicherheitsleute versuchen, ihrer Anwesenheit einen Sinn zu geben. Daniel wird mehr zum Schutzengel, zur Vaterfigur als zum Sicherheitsbeamten, und Ammar folgt seinem Instinkt und dem Ruf des Waldes. Beide kommen schliesslich unten am Fluss an, von wo sie die Bewohner*innen eigentlich fernhalten sollten, wo jedoch das Glück des Viertels liegt.

Letztendlich ist die Aufmerksamkeit, die dem Unsichtbaren zuteil wird, gar nicht so absurd. Denn was, wenn die « Auflösung » des mysteriösen Ereignisses eine Art Insel – L’Îlot – wäre. Eine beruhigte Zone ausserhalb der Gesetzmässigkeiten unserer Welt, eine offene Schleuse zur Fantasie, eine vor Blicken geschützte Insel der Möglichkeiten, auf der sich Geheimnisse, Wünsche und Träume, Hoffnungen und Traurigkeit, verbotene Liebe verbergen. Eine Quartierzone, wo der Lauf des Lebens frei von Kontrollen und Zwang fliesst und die Überwachung gerade keinen Platz hat. Was eben noch bedrohlich wirkte, entpuppt sich als Oase der Beruhigung.

Das Imaginäre ist eine Freiheit, die nicht überwacht werden kann.